Nietzsche: Die Umwertung aller Werte und der Übermensch

Nietzsche: Die Umwertung aller Werte und der Übermensch
Nietzsche: Die Umwertung aller Werte und der Übermensch
 
Der Beitrag Friedrich Wilhelm Nietzsches zur Philosophie ist eng mit seiner Biographie verwoben. Für seine spätere Ablehnung des Christentums erweist sich Nietzsches familiäre Herkunft aus der Tradition des bürgerlichen Protestantismus als bedeutsam. So war sein Vater Pfarrer in Röcken, wie auch die Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits das protestantische Pfarramt innehatten. Hier wurde Nietzsche 1844 geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters siedelte die Familie 1850 nach Naumburg über, wo der junge Friedrich zusammen mit seiner Schwester Elisabeth in einer von der Großmutter, seiner Mutter und zwei unverheirateten Tanten nachhaltig bestimmten häuslichen Welt heranwuchs. In der Gymnasialzeit setzte bei Nietzsche unter dem Einfluss der romantischen Dichtung Hölderlins und Jean Pauls sowie der Musik von Richard Wagners »Tristan und Isolde« und der Texte der griechischen Antike eine wachsende Distanz zum protestantischen Bekenntnis der Familie ein.
 
Seine beiden ersten Studiensemester verbrachte Nietzsche 1864 und 1865 in Bonn, wo er sich für die Fächer Altphilologie und Theologie eingeschrieben hatte. Die Lektüre der Schrift »Das Leben Jesu« von David Friedrich Strauß veranlasste Nietzsche, das Studium der protestantischen Theologie zugunsten einer Konzentration auf die Altphilologie ganz aufzugeben. In Leipzig, wohin Nietzsche seinem Lehrer Friedrich Wilhelm Ritschl gefolgt war, stieß er in einem Antiquariat auf Schopenhauers Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« aus dem Jahr 1818, in dessen tragischer Weltdeutung sich Nietzsche persönlich wiederfand. Mit der Rezeption der Philosophie Schopenhauers wurden die Grundlagen für Nietzsches eigenes späteres Philosophieren gelegt. Auch der für seine weitere intellektuelle Biographie wichtige persönliche Kontakt mit Richard Wagner begann in der Zeit seiner Studien in Leipzig.
 
Nietzsches Entschluss, mit dem Studium der Altphilologie eine Karriere als Universitätsprofessor anzustreben, erscheint verglichen mit seinen Reflexionsansprüchen trotz seiner hohen philologischen Qualifikation als ein Kompromiss, bei dem seine philosophischen und ästhetischen Ambitionen nicht hinreichend Berücksichtigung finden konnten. So blieben die inneren und äußeren Konflikte nicht aus. Diese veranlassten Nietzsche, der 1869 im Alter von nur 25 Jahren noch vor Abschluss seiner Dissertation auf Vorschlag seines Lehrers eine Professur für Altphilologie in Basel erhielt, schon 1879 aus dem Hochschuldienst wieder auszuscheiden. In der Zeit in Basel befreundete sich Nietzsche mit Franz Overbeck und mit dem wesentlich älteren Jacob Burckhardt, die beide auf sein späteres Denken Einfluss nahmen; in dieselbe Zeit fiel auch Nietzsches enge Freundschaft mit Richard und Cosima Wagner, die ihn bis 1872 in ihrem Haus in Triebschen bei Luzern empfingen. 1872 erschien Nietzsches erste größere Schrift: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik«. Mit dieser Veröffentlichung, die Nietzsche als einen Beitrag zur altphilologischen Forschung verstand, versuchte er den Nachweis für seine These, die griechische Tragödie habe sich aus dem Dionysoskult entwickelt. In diesem Zusammenhang behauptete Nietzsche, dass seit Euripides und vollends seit dem Auftreten der Philosophie des platonischen Sokrates der ursprüngliche griechische Mythos und dessen heroisches Ethos vernichtet worden seien. Seitdem beherrschen, so Nietzsches Diagnose, die metaphysisch orientierte Philosophie und die wissenschaftliche Rationalität, der Typus des theoretischen und optimistischen Menschen die abendländische Zivilisation. Erst mit der Philosophie Schopenhauers und der aus ihr schöpfenden Musik Wagners sei eine Wiedergeburt des Tragischen, des ursprünglichen Geistes der Hellenen in greifbare Nähe gerückt. So positiv die Freunde Nietzsches seine Schrift aufnahmen, so hart und ablehnend fiel die Reaktion der Fachwelt aus. Der später zu hohem Ansehen im Fach aufsteigende Wilamowitz-Moellendorff replizierte im Mai des Jahres 1872 und suchte Nietzsche philologischer Unbedarftheit und philosophischer Unkenntnis zu überführen. Mit dieser Kritik war Nietzsches Reputation als Altphilologe zerstört und er selbst fachlich isoliert.
 
In den Jahren bis zur Veröffentlichung der Schrift »Menschliches, Allzumenschliches« 1878 distanzierte sich Nietzsche immer stärker von Grundmotiven der Philosophie Schopenhauers. Mit Richard Wagner kam es zum offenen Bruch. Nietzsche zeigte sich statt dessen beeinflusst von den Autoren der französischen Aufklärung und der Philosophie Friedrich Albert Langes, dessen erkenntniskritischer Agnostizismus ihn an der Willensmetaphysik Schopenhauers und der von ihr propagierten substanziellen Rolle der Kunst zweifeln liess. Sein Vorgehen orientierte sich nun methodisch am Instrumentarium der psychologisch-genealogischen Ableitung und der Kritik an »ewigen Wahrheiten« sowie an »ewigen Werten«. Seine in diesen Jahren stilistisch zur Meisterschaft entwickelte Darstellungsform des Aphorismus ließ Nietzsche dazu übergehen, die bisherige Gestalt der Philosophie in eine Psychologie und Genealogie der Moral, der Kultur und der Gesellschaft aufzulösen. Da Nietzsches Idee einer »neuen Kultur« bei keiner vorgegebenen Institution mehr ansetzen konnte, rückte als Träger des Neuen der Einzelne, der »freie Geist« ins Zentrum seiner Zukunftserwartungen. Dabei fällt auf, dass Nietzsche sich selbst als dieser »freie Geist« stilisiert, der er - zumal nach seinem Rücktritt als Hochschullehrer und infolge von Einsamkeit und Gesundheitsproblemen - mehr und mehr lebensweltlich isoliert auch wurde. Zugleich zeichnete sich in dieser Figur des »freien«, aus allen Bindungen losgelösten »Geistes« auch schon die Idee des »Übermenschen« ab, die er in seiner Schrift »Also sprach Zarathustra« ausführt. Mit dem Begriff des »Übermenschen« griff Nietzsche auf das Renaissance-Ideal des »uomo universale« zurück, wobei er sich des Terminus eines »homme supérieure« bei Helvétius bediente.
 
Der zwischen 1883 und 1885 in vier Abschnitten vorgelegte Text des »Zarathustra« enthält den »positiven«, »jasagenden« Teil seiner Philosophie, zu deren lehrmäßigem Bestand Nietzsches Behauptung eines in allem Lebendigen sich vollziehenden »Willens zur Macht« und einer »ewigen Wiederkehr des Gleichen« ebenso zählt wie seine Rede vom »Tode Gottes«. Dem, wie er meint, in der Zukunft allererst kommenden »Übermenschen« weist Nietzsche die Aufgabe zu, den Nihilismus, wie er für ihn in der abendländischen Kultur als Folge der bisher dominierenden Vorstellungen von Gott und vom Menschen begegnet, zu überwinden. Nietzsches Rede vom Nihilismus kennzeichnet also einen deutlich diagnostischen Grundzug. Den »negativen«, »neinsagenden« Teil seiner Philosophie führten seine beiden 1886 und 1887 vorgelegten Schriften »Jenseits von Gut und Böse« und »Zur Genealogie der Moral« aus. Sie haben Nietzsche zufolge die Aufgabe, dazu beizutragen, die, wie er meinte, »mit den Juden« begonnene und im Christentum erfolgreich fortgeführte »Umwertung aller Werte« wieder rückgängig zu machen. Nietzsche plädierte stattdessen für einen »Immoralismus«, der es den vornehmen und starken »Individuen« und »Rassen« gestattet, endlich wieder skrupellos über die Schwachen zu gebieten.
 
Die letzten Jahre seines Schaffens waren geprägt von einer emsigen Produktivität, aber auch von einer zuweilen bis ins Extrem gesteigerten Selbststilisierung und einem Sendungsbewusstsein, das unschwer als ein Ausdruck der Überkompensation seiner tatsächlichen Einsamkeit und Resonanzlosigkeit verstanden werden kann. Es lag aber vielleicht auch schon der Schatten des in den Januartagen des Jahres 1889 einsetzenden physischen Zusammenbruchs über den 1888 beendeten Schriften Nietzsches: Im August schloss er seine Arbeit an den »Dionysos-Dithyramben« und am »Fall Wagner« ab, im September folgten die »Götzendämmerung« und der »Antichrist«, im November »Ecce homo« und im Dezember schließlich seine erneute Auseinandersetzung mit Richard Wagner in »Nietzsche contra Wagner«. Der Ausbruch seiner Geistesgestörtheit zu Beginn des Jahres 1889 beendete zehn Jahre eines unermüdlichen Wirkens von Nietzsche als freiem Schriftsteller im Anschluss an die Aufgabe seiner Baseler Professur. Bis zu seinem Tod am 25. August 1900 in Weimar verblieb Nietzsche in einem Zustand progressiver Umnachtung, ohne noch selbst das im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts allmählich einsetzende Interesse an seiner Philosophie zur Kenntnis nehmen zu können.
 
Prof. Dr. Dr. Matthias Lutz-Bachmann
 
 
Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.
 Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831—1933. Frankfurt am Main 51994.

Universal-Lexikon. 2012.

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